„Der lineare Weg geht in die Hose“
„Wachstum im Wandel“ im Gespräch mit dem Unternehmer Rainer Schultheis
Mit diesem Artikel beginnen wir eine Serie. Wir portraitieren unsere Mitglieder (als Personen aber auch als Vertreter ihrer Organisation) in ausführlichen Interviews, in denen wir auch der Frage nachspüren, was sie mit dem „Wachstum im Wandel“ verbindet. Wir starten die Serie mit Rainer Schultheis, CEO der Saphenus Medical Technology GmbH.
Bevor er zum Unternehmer wurde, sammelte Rainer Schultheis zwanzig Jahre lang Erfahrung als Wissenschaftsjournalist und Autor, u.a. beim Österreichischen Rundfunk (ORF). Seit 2005 war er am Sustainable Europe Research Institute (SERI) an mehreren wissenschaftlichen Projekten zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit (Schwerpunkt Human- und Sozialkapital) beteiligt. Rainer Schultheis studierte an der Universität Wien (Meteorologie) und an der Wirtschaftsuniversität (Betriebswirtschaftslehre) und ist auch Mitglied im Austrian Chapter des Club of Rome.
Das Interview führte Fritz Hinterberger, Vorstandsmitglied des Vereins „Wachstum im Wandel Österreich“.
Fritz: Lieber Rainer, wir kennen uns seit 20 Jahren und haben in verschiedene Zusammenhängen zusammen gearbeitet. Beginnen wir mit Dir und Deinem Unternehmen. Du bist ja in einem Bereich tätig, mit dem die meisten von uns hoffentlich nie etwas zu tun haben.
Rainer: Ja, und gleichzeitig ist es eine überraschend große Gruppe von Menschen, die betroffen sind. Man spricht in unseren Breiten von ungefähr 0,5 % der Bevölkerung, die amputiert ist. Das bedeutet zum Beispiel in Österreich zwischen 30 und 40.000 Menschen und in Deutschland eben das Zehnfache, in Europa 2 bis 2,5 Millionen. Übrigens sind die meisten Amputationen bei uns eine Folgeerscheinung von Diabetes. Sogenannte traumatische Amputationen, zum Beispiel durch einen Unfall mit dem Auto oder Motorrad, gehen laufend zurück, vor allem weil man viele heute in der Intensivmedizin retten kann. Und ein kleines Bonmot Die, die. Übrigens ist die Zahl der Diabetesamputationen ist in den USA doppelt so hoch wie in Europa.
Und auf der anderen Seite haben die erschreckenden Ereignisse der letzten Jahre in den Kriegsgebieten, also Israel, Palästina, Ukraine und Russland für eine furchtbare Anzahl an Amputationen gesorgt, wo die Amputation leider offenbar Teil einer Kriegsstrategie ist – mit Minenfeldern im Übrigen so groß wie Österreich. Also jeder zweite Verwundete im Krieg der Ukraine ist einer, der amputiert werden muss. Das heißt, dort sind sehr sehr viele von traumatischen Amputationen betroffen. Und dann hast du generell in Entwicklungsländern viele Amputationen durch schlechte Infrastruktur. Menschen geraten zum Beispiel in Stromkreise und insgesamt spricht man weltweit von 50 bis 55 Millionen Amputierten. Das ist ein Markt, der gar nicht bedient werden kann. Es ist unfassbar.
Fritz: Du bist soeben Mitglied bei Wachstum im Wandel geworden. Warum?
Rainer: Aus meiner Sicht ist es eine Notwendigkeit für Start-ups, um besser überleben zu können, dass die Nachhaltigkeit Teil des ganzen sein muss. Und meiner Meinung nach hat es auch den Erfolg unseres Unternehmens von Anfang an beeinflusst – sei es bei dem Akquirieren von Förderungen, aber auch jetzt bei der Suche nach Investoren. Und auch die Ernsthaftigkeit, sich diesen sogenannten Social Impact Themen zu widmen, ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt.
Fritz: Was interessiert Dich dabei an „Wachstum im Wandel“ – wie verbindet sich das Thema mit Deiner Arbeit
Rainer: Weil ich sehe, dass wir nicht diesen klassischen linearen Weg, wie Unternehmen heute üblicherweise geführt werden und wie sich Unternehmen demnach entwickeln, gehen können. Weil das für ein Medizintechnikunternehmen in die Hose geht. Möglicherweise nicht so sehr im klassischen Sinne, wie es in vielen Bereichen der Wirtschaft in die Hose geht – und es betrifft im Übrigen nicht nur die Medizintechnik sondern wahrscheinlich auch viele andere junge Unternehmen, die in ihrem Lauf ihrer Wachstumsphase daran arbeiten müssen, dass sie immer genug zum Leben und auch noch ausreichend Energie in Form von Liquidität bei sich haben. Für diese Unternehmen ist es extrem wichtig, den Wachstumsgedanken neu zu definieren.
Und daher macht es Sinn, von Anfang an diese Hausaufgaben der Nachhaltigkeit neu zu erledigen und sich dem „Wachstum im Wandel“ zu stellen, um das Unternehmen letztlich erfolgreich führen zu können.
Das gilt gerade in den Branchen, die sich typischerweise nicht oder nur selten mit Nachhaltigkeitsthemen beschäftigen müssen, weil sie an sich schon aus ihrem Geschäftszweck heraus Beiträge für die Gesellschaft leisten. Ich würde mir auch wünschen und auch von Nachhaltigkeitsforschern einfordern, auch nach Ansätzen zu suchen, wie man in solchen Branchen mit der Nachhaltigkeit umgeht, wenn es um sozial nachhaltige Aspekte geht und welche Bewertungskriterien es dafür gibt.
Fritz: Wie geht das konkret?
Rainer: Nachhaltigkeitsfaktoren sind letztlich ganz wichtige Wachstumsfaktoren für Unternehmen in dieser Branche. Nehmen wir den Fall meines Unternehmens in der Prothetik. Wir haben es aus einer neuen Technologie heraus möglich gemacht, unsere Unternehmensidee für einfache und damit kostengünstige Prothesen anzuwenden und damit Marktanteile zu erwirtschaften, die im klassischen High-Tech-bereich unmöglich wären. So werden unsere Prothesen, teilweise auch gebrauchte Prothesen, für Menschen leistbar, für die sie es bisher nicht waren – etwa in Tunesien oder in der Ukraine, wo es einen unvorstellbar großen Bedarf gibt bei gleichzeitig mangelhafter Versorgung durch den Staat. Wir reden hier von Preisunterschieden in einer Größenordnung von bis zu 1:10.
Fritz: Was ist deine Vision? Wo ist Saphenus in zehn Jahren?
Rainer: Also meine Vision kommt zunächst einmal aus der von uns entwickelten Technologie zur Zuführung peripherer Sensibilität, für die wir komplett neues Wissen, für das 2021 auch der Medizin-Nobelpreis vergeben wurde, in eine praktisch anwendbare Idee umgesetzt haben. Und mein Ziel ist es, als sozialer Entrepreneur diese Ideen für möglichst viele weitere medizinische Formenkreise anzuwenden, weil ich davon überzeugt bin, dass wir mit solchen regenerativen Ansätzen viel erfolgreicher sind als mit klassischen Produkten.
Fritz: Bitte nenne uns Beispiele!
Rainer: Es gibt neben der Prothetik auch Bereiche in der Vorstufe von Amputation bei diabetischer Polyneuropathie zum Beispiel, wo man den Menschen helfen kann, ihre Gliedmaßen zu behalten. Das geht aber hin bis in den Büroalltag, wo wir es durch Zuführung von Sensibilität schaffen können, Menschen, die, die sich nicht mehr bewegen, über den Sense of Touch zu helfen, dass es ihnen besser geht.
Das ist jetzt einmal rein unternehmerisch gedacht. Was ich als Unternehmer dabei erreichen möchte ist, mich unabhängig davon zu machen, das Unternehmen am Ende verkaufen zu müssen um die hinein gesteckte Energie zurück zu verdienen. Ich glaube, dass unsere Ideen als Langzeitideen das Unternehmen tragen können. Ob uns das gelingen wird, kann ich heute nicht sagen; ob wir in zehn Jahren noch auf dem Markt sind oder doch von einem anderen Unternehmen gekauft wurden. Ich bin mir aber sicher, dass das nächste und übernächste Projekt dann eines ist, wo ich völlig unabhängig bin und diese Energie, die wir da bekommen, dafür nutzen können, dass wir einen einem nicht unwichtigen Zweig in der Medizin besetzen können. Das ist mein Hauptziel
Fritz: Was soll darf und soll dabei wachsen? Wovon brauchen wir vielleicht weniger in so einem Prozess, in diesem Umfeld, in dieser Branche?
Rainer: Ganz vordergründig betrachtet geht es natürlich darum, das diese Therapie und damit unsere Medizinprodukte möglichst vielen Menschen zugutekommt. Das heißt, dass wir den klassischen SDGs, die in unserem Nachhaltigkeitsprogramm erarbeitet haben, gerecht werden und dass damit schließlich das Wellbeing vieler Menschen sich dadurch erhöht. Und das muss letztlich auf globaler Ebene passieren. Das heißt, dass wir uns davon verabschieden müssen, nur auf die zunächst angepeilten Märkte in den reichen Industrieländern zu gehen, sondern dass man immer das große Ganze betrachten muss.
Im Extrem ist würde ich sogar sagen, dass nämlich sonst die Gefahr besteht, dass überhaupt ein Medizinprodukt, das sich als Disruption herausstellen könnte, als allererstes von einem Konkurrenten gekauft wird und in der Schublade verschwindet. Und zwar genau deswegen, weil sie Angst haben davor, dass unser Medizinprodukt ihre Medizinprodukte sozusagen unterminiert. Das ist ein Riesenproblem der gesamten Branche. Wir sehen das sehr oft, dass das, dass große Hersteller etwas kaufen, um es einfach verschwinden zu lassen. Da braucht es dringend einen Paradigmenwechsel.
Fritz: Wie kann der herbeigeführt werden?
Rainer: Durch Role Models wie uns möglicherweise, indem wir versuchen, uns nicht kaufen zu lassen. Wir haben in Österreich eine unglaublich tolle Anschubfinanzierung am Anfang. Pre-Seed Förderung ist phantastisch – und dann hört es plötzlich auf. Dann musst du dich irgendwie über die Grenzen Österreichs hinaus um Kapitalgeber bemühen, die aber alle nur unter der Bedingung Kapital hineinwerfen ins Unternehmen, dass du nachher verkauft wirst. Das nennt man Exit-Strategie. Aber das ist eine Einbahnsituation und daher unbefriedigend. Es braucht daher meiner Meinung nach Unternehmer, die es anders machen – die dazu verpflichten, mit dieser Energie, die sie letztlich mit österreichischem Steuergeld bekommen haben, etwas zu tun, das die Substanz erhält oder sogar vergrößert. Das kann man durchaus als wirtschaftspolitischen Auftrag sehen, dass das, was wir aufgebaus haben, im Land bleibt und Unternehmen nicht nach Amerika ziehen müssen, wie es leider so oft passiert.
In Österreich werden Millionen ausgegeben für Pre-Seed-Förderung und kaum braucht man Risikokapital muss schon der Sitz nach Santa Barbara gewechselt werden. Das sollte auf jeden Fall verhindert werden – und zwar aus mehreren Gründen nicht zuletzt auch aus Nachhaltigkeitsgründen.
Fritz: Wie erreichst du das? Also, was tust du dafür und welche Rahmenbedingungen braucht es? Oder gibt es Hemmnisse, dass das eigentlich gar nicht geht?
Rainer: Wir haben jetzt vor geraumer Zeit die MedTech Factory in Baden gegründet, wo wir mit jungen Unternehmen daran arbeiten, Innovation schneller in ein Medizinprodukt umwandeln wollen. Dafür braucht es Gründer, die, die eine tolle Idee haben und Multiplikatoren wie zum Beispiel über die Inkubatoren. Und du brauchst Gleichgesinnte, die bereit sind, dieses Wissen auch weiterzugeben. Und gerade in unserer Branche, in der Medizintechnik, ist das ja überraschend viel Wissen verfügbar. Aber niemand kennt es und folglich wird daraus auch kein Geschäft gemacht. Und daher ist es wichtig, das Qualitätsmanagement, das in jedem Medizintechnik-Unternehmen einen großen Stellenwert hat, von Anfang an mit einem Nachhaltigkeitsmanagement zu verknüpfen. Oder die Regulatorik, die viele Unternehmen als großen Stolperstein sehen, als Chance zu betrachten, um über die Nachhaltigkeit auch eine Transparenz im Unternehmen darzustellen. Und da helfen einem schon bestehende Strategien aus der Nachhaltigkeit, Stichwort zum Beispiel Gemeinwohlökonomie oder die Kreislaufwirtschaft mit ihrem Fokus auf Lieferketten.
Die, die dich verpflichten, in gewisser Weise auch offen zu sein und bereit zu sein, sich auch zu verändern. Und da tut man sich am Anfang viel, viel leichter, als wenn man dann ein gestandenes Unternehmen ist. Da ist man am Anfang viel, viel flexibler und dynamischer. Daher sehe ich es als gute Möglichkeit, sich zu profilieren und ich sehe in Österreich da auch wirklich wirklich tolle Mitstreiter gerade in dieser ersten Frühphase der Unternehmensgründung. Die Stolpersteine sind natürlich handelnde Personen, die das Unternehmen gegründet haben und sich nicht an den in diesem Sinne erweiterten hippokratischen Eid halten und dann vielleicht auch im Laufe der Zeit zu gierig werden oder ihre Grundsätze zu verlassen.
Fritz: was kann man dagegen tun?
Rainer: Also wir machen in der MedTech Factory schon eine Art Profiling der Menschen, die sich bewerben. Denn der Aufwand von uns ist eigentlich sehr groß und auch großzügig wie auch sehr vertrauensvoll. Und auch der Staat gibt einem dabei einen unglaublichen Vertrauensvorschuss in Form von Geld für etwas, das morgen in der Rundablage landen kann. Und entsprechend, glaube ich, muss man sich noch genauer mit den Menschen beschäftigen, die so etwas machen. Schon rein aus finanziellen Gründen.
Fritz: Es braucht ein bestimmtes Mindset?
Rainer: Ja, und sich mit diesen Themen auseinander zu setzen. Die Förderinstitute tun das ja zum Teil schon, indem sie bedingt rückzahlbare Zuschüsse anbieten, sodass du bei späteren Gewinn später das Geld wieder zurückzahlen kannst – und sollst. Das kann aber meiner Meinung nach neu und viel, viel größer gedacht werden. Bei „smart“ steckt auch immer ein bisschen die Idee jemanden hinters Licht zu führen drin, Geld verdienen und dann nichts mehr arbeiten müssen. Das darf es nicht sein.
Fritz: Bei Start-ups sprechen wir ja in erster Linie von jungen Menschen.
Rainer: Ja, und ich glaube auch, dass diese Generation das auch viel stärker mitbringt als frühere Generationen. Aber es gibt viele Branchen, die schauen dich immer noch mit einem großen Fragezeichen an, wenn du da mit diesen Themen kommst. Nehmen wir das Beispiel BioTech. Da steckt das Wort „Bio“ sogar drinnen, aber die Branche hat mit Nachhaltigkeit in den meisten Fällen sehr, sehr wenig zu tun. Das ist irre, wenn du dir nur zum Beispiel die Nachhaltigkeitsziele der WTO anschaust, dann hast du wie einen Setzkasten Bereiche und Ziele, mit denen sich Unternehmen auseinandersetzen müssen.
Fritz: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Rainer: ich danke Dir!